Lk 9,17-20
06.07.2025
Liebe Schwestern und Brüder!
1. Es gehört zu den schwierigen Aufgaben der Theologie, insbesondere der Exegeten, also der Bibelausleger, aus den Quellen der Schrift den Jesus herauszuschälen, wie er wirklich war. Die Evangelien sind ja 60-80 Jahre nach Jesus geschrieben worden. Sie sind also bereits Ausdruck des Glaubens an Christus. Und die Frage lautet: Ist der Christus des Glaubens, wie er uns in den Evangelien begegnet, auch der historische Christus? Freilich ist das, was in den Evangelien steht, nicht einfach Erfindung, sondern eine Art Echo eines wirklichen Geschehens. Aber je länger ein Echo reflektiert wird, um so schwerer ist es, das Ursprungsereignis herauszuhören. Aber immerhin: Es hat ein Ursprungsereignis gegeben, dass man aus dem Echo herauszuschälen versucht. Manche Theologen sprechen von einem „garstigen Graben“, um die Lücke zwischen dem historischen Jesus und dem Christus der Bibel zu beschreiben.
2. Heute allerdings haben wir im Evangelium einen Satz, von dem die Exegeten glauben, eine Urerfahrung Jesu vor sich zu haben, also eine Erfahrung des historischen Jesus, eine Erfahrung, die zeigt, woraus er gelebt hat. „Jesus sagte zu seinen Jüngern: Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen.“ Hier gibt Jesus etwas preis, was ihn wohl bewegt hat, so zu leben, wie er gelebt hat.
3. Dazu muss man wissen, wer zurzeit Jesu der „Satan“ war. Um es gleich zu sagen: Der Satan im spätjüdischen Glauben und somit im Glauben Jesu hat mit dem Teufel der Kirche überhaupt nichts zu tun. Die beiden sind sich so fremd wie nur was! In den späten Schriften des Alten Testaments hat sich eine Figur herausgebildet, die „Satan“ genannt wird. Satan hat im Alten Testament die Aufgabe des Anklägers beim göttlichen Hofstaat. die hebräische Bezeichnung Satan (שטן, Sin-Teth-Nun) bedeutet so viel wie „Ankläger“. So wird uns im Buch Sacharja von einer Vision berichtet, die der Prophet hatte. Er schreibt dazu: „Sodann ließ Gott mich den Hohenpriester Josua schauen, wie er vor dem Engel Gottes stand, während der Satan zu seiner Rechten stand, um ihn anzuklagen“. Oder denken wir das Buch Hiob: Hiob ein tiefgläubiger Mensch wird von Satan bei Gott angeklagt. Er, Hiob, könne doch nur deshalb so ein tiefes Gottvertrauen haben, weil es ihm gut geht. Er ist reich, hat eine wunderbare Familie, Gesundheit usw. Dass es mit seinem Glauben in Wahrheit gar nicht so gut bestellt sei, wirst du, Gott, schon sehen, wenn du ihm den ganzen Reichtum, seine Familie und seine Gesundheit wegnimmst, so klagt der Satan Hiob bei Gott an. Der Satan hat also in diesen späten Schriften des Alten Testaments eine bestimmte Funktion innerhalb des himmlischen Hofstaates zu erfüllen, die Funktion des Anklägers.
4. Und diesen Ankläger sieht nun Jesus wie einen Blitz vom Himmel fallen. Darin spiegelt sich die Urerfahrung Jesu wider. Was kann sie für uns Heutige bedeuten? Der Mensch hat die Fähigkeit, über sich nachzudenken und sich selbst auch zu korrigieren, wenn es sein muss. Er kann sich also auch selbst anklagen. „Ich klage mich an“, denkt er dann. Der Mensch kann sich also wie von außen betrachten und, indem er Fehler oder Schuld erkennt, sich auch anklagen und sich verändern. „Ich klage mich an“, hier bin ich sowohl Kläger, „ich klage“, also auch Angeklagter „klage mich an“. Ich bin Subjekt und Objekt. Eine wunderbare Fähigkeit des Menschen. Bei religiösen Menschen kommt nun noch etwas hinzu, was gefährlich sein kann: Dieses Gefühl, dass ich mich selbst anklage, wird auf Gott übertragen, so dass ich das Gefühl habe: Gott klagt mich an. Gott weiß alles. Nicht ich klage mich vor Gott an, sondern es gibt ein grundsätzliches Angeklagtsein vor Gott. Für dieses Gefühl steht die Figur „Satan“, die im zweiten/dritten Jahrhundert vor Christus in den alttestamentlichen Schriften auftaucht. Es gibt nicht wenige Menschen, die von ihrem religiösen Grundgefühl her glauben, vor Gott angeklagt zu sein. Und vor dieser Instanz – so sagt man – muss der Mensch Rechenschaft ablegen. So kann es passieren, dass sich ein Gefühl des Angeklagtseins ausbildet, das dann eher eine ängstliche oder skrupulöse Grundstimmung erzeugt. Dies findet seinen Niederschlag in verschiedenen Bildern von Gott, so zum Beispiel, wenn man von Gott als Richter spricht oder von einem endgültigen Gericht spricht, in dem der Einzelne wie ein Angeklagter vor Gott erscheinen muss.
5. Und nun sieht Jesus den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen. Das ist eine Urerfahrung Jesu, so eine Art Berufungsvision. Das heißt: Jesus erfährt, dass es keinen Ankläger mehr vor Gott gibt und somit auch kein Angeklagtsein bei Gott gibt. Jesus macht eine tiefe Gotteserfahrung: Gott ist nicht so, dass er uns anklagt. Gottes Liebe ist von solcher Größe und Stärke, dass wir ganz versöhnt mit ihm leben, in tiefer Gemeinschaft. Und diese Versöhnung schließt alles mit ein: Auch die Schuld. Und um genau dies den Menschen zu künden, hat Jesus dann so gelebt, wie er gelebt hat. Und für diese Urerfahrung, die er machen durfte, auch das Kreuz getragen: So weit geht die Versöhnung Gottes mit uns, dass sogar alle Gewalt und Schuld, die sich gegen Jesus austobt, mit hineingenommen ist in die Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott. Der Ankläger ist gestürzt. Es gehört daher zu einem der ganz großen Bilder, die uns eine Spätschrift des Neuen Testamentes überliefert, nämlich die Offenbarung des Johannes. Dort heißt es: „Da hörte ich eine laute Stimme im Himmel rufen: Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten; denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder und Schwestern, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte.“ (Offb 12,10). Das nennen wir Erlösung, das nennen wir Gnade, das nennen wir Versöhnung und Gemeinschaft mit Gott. Jemand sagte einmal einen ganz gewagten Satz. Ich möchte ihn nicht kommentieren. Als ich ihn hörte, musste ich auch schlucken: „Gott vergibt nicht, weil er niemanden anklagt.“ Und aus diesem Geist heraus, aus dem Geist radikaler Annahme durch Gott, kann ich mich auch in der Annahme meiner dunklen Seiten auch mich selbst anklagen, nicht als Verdrängung der Schattenseiten, sondern als Annahme.
Franz Langstein