19. März 1945 – 19. März 2025 - 80 Jahre Zerstörung der Stadt Hanau

04. Apr 2025

Zeitzeugen aus der alten Stadtpfarrei Mariae Namen erinnern sich. Im Vorfeld des 19. März sprach Gemeindereferent Maurice Radauscher mit drei älteren Gemeindemitgliedern aus Mariae Namen, die 1945 die Hanauer Bombennacht als Kinder überlebten: Gisela Hardegen, Willi Oschwald und Werner Jüngling.

MR: Ab 1940 wurden rund vierzig Luftangriffe auf Hanau durchgeführt. Immer wieder starben Menschen, manchmal über hundert. Besonders schlimm war es am 6. Januar 1945. Damals wurde schon die ganze Hanauer Altstadt zerstört. Gisela Hardegen erinnert sich, wie sie diese bedrohliche Zeit als Grundschülerin der Brüder-Grimm-Schule erlebt hat:

Hardegen: Der Heimweg von der Schule war oft durch Tiefflieger unterbrochen, das hieß: Verstecken! Sie erschossen alles, was sich bewegte. Am Bahnübergang Pedro-Jung-Park befand sich ein Schutzkeller in der Erde. Mit einer dicken Eisentür. Hinter so einer dicken Eisentür verschanzten wir uns seit Kriegsbeginn in vielen Nächten. Der Fliegeralarm riss uns oft aus dem Schlaf und wir flüchteten vom 2. Stockwerk in den Schutzkeller hinter die Eisentür. Diese Eisentüren verfolgen mich noch heute mit 89 Jahren.

MR: Schon am 7. Dezember 1944 wurde die Kirche Mariae Namen beschädigt. Willi Oschwald erinnert sich, worum der damalige Stadtpfarrer Theodor Weidner seinen Vater daraufhin bat:

Oschwald: Mein Vater war damals schon sehr aktiv in der Stadtpfarrei Mariae Namen. Pfarrer Weidner, der später am 19. März 1945 sein Leben verlieren würde, bat ihn damals das große Holzkreuz abzuhängen und einzulagern. Mein Vater hatte nämlich einen Gewölbekeller. Das Kreuz sollte einen Brandbombenangriff unbedingt überstehen. Damit es eingelagert werden konnte, musste es allerdings in drei Teile zersägt werden. Das tun zu müssen hat meinem Vater sehr wehgetan.

MR: Nicht nur die Kirche, auch Familien trafen private Vorbereitungen auf eine mögliche Zerstörung ihrer Häuser und ihrer Stadt. Familie Oschwald etwa hatte schon eine Wohnung in Mittelbuchen, in die bereits Möbel und Wertsachen gebracht waren. Ein Wertkoffer mit den Papieren war stets fluchtbereit gepackt. Familie Jüngling hatte langfristig die Flucht auf einen Bauernhof in Ravolzhausen geplant. Doch bis zum 19. März waren alle Zeitzeugen aus unserer Gemeinde in Hanau verblieben. Gisela Hardegen beschreibt es, als wäre es gestern:

Hardegen: Heute vor achtzig Jahren und für mich greifbar nah und noch fest eingebrannt… der dunkelste Tag für Hanau. Ich war inzwischen neun Jahre alt. Die Nacht war durch abgeworfene Leuchtstäbe, die aussahen wie Christbäume, taghell erleuchtet. Bombenflieger dröhnten immer näher. Es erfolgte die Flucht aller Bewohner von acht Wohnungen in den Luftschutzkeller im Haus. Ich hüpfte in Panik so schnell ich konnte, drei Stufen überspringend, die Treppe hinunter. Dicht gedrängt saßen schon alle zusammen, bis die schrecklich schwere Eisentür geschlossen wurde. Gefangen!

MR: Werner Jüngling, damals sechs Jahre alt, berichtet von seiner Nacht im Schutzkeller:

Jüngling: Es fielen Sprengbomben. Der alte Herr Mitterer versuchte die Tür zuzuhalten. Jeder Bombeneinschlag drückte ihn durch den Raum. Unter der Straße hindurch gelangen wir in den nächsten Keller.

Wir Kinder konnten die Gefahr nicht realisieren. Wir verstanden gar nicht, was da passierte. Ein Bekannter meiner Mutter überzeugte sie, den Keller zu verlassen. Er wusste, dass das lebensgefährlich werden könnte, dort unter der Erde zu verharren.

Als das Bombardement aufhörte, sind wir hoch- und hinausgegangen. Alles brannte. Die ganze Stadt stand in Flammen. Irgendwie fanden wir auf das Geheiß des Bekannten einen Weg Richtung Schlossgarten. Draußen vor dem Schlossgarten lagen überall Tote. An diesem Ort verbrachten wir die Nacht.

Alle, die mit uns im Keller geblieben und nicht rausgeflohen waren, überlebten diese Nacht nicht. Sie erstickten am Kohlenmonoxid, das in den Keller hinuntergezogen war.

MR: Auch im Keller, in dem Gisela Hardegen ausharrte, wurde die Luft dünn:

Hardegen: Das Phosphor der Brandbomben fraß sich knisternd von oben durch das Haus. Die Schutztür in unserem Keller war verklemmt und konnte erst spät durch einen Luftschutzwart geöffnet werden. Gerade noch rechtzeitig wurden wir vor dem Erstickungstod gerettet.

MR: Im Gegensatz zu Jünglings und Hardegens war die fünfköpfige Familie von Willi Oschwald allein im Gewölbekeller ihres Hauses. Mit ihnen das zersägte Holzkreuz von Mariae Namen. Auch dieses Fachwerkhaus wurde von einer Brandbombe getroffen.

Oschwald: Das Haus brannte Lichterloh. Unsere Familie war allein in dem Gewölbekeller des lichterloh brennenden Hauses.

Nach dem Angriff wollten wir den Keller in Richtung Paradeplatz – heute Freiheitsplatz – verlassen. Ich, 5 1/2 Jahre alt, blieb zunächst allein zurück und passte auf den Wertkoffer auf. Mein kranker Bruder und meine Schwester mussten von den Eltern getragen werden. Mein Vater sagte zu mir: Du bist vernünftig, du kannst auf den Wertkoffer aufpassen. Er wollte mich später holen, wenn der Rest der Familie in Sicherheit sein würde.

Nach einer Zeit holte der Vater mich ab und wir wollten den Keller verlassen. Dabei fiel meinem Vater ein brennender Balken auf den Kopf. Er und ich stürzten die Treppe runter. Mein Vater war kurz bewusstlos, ich brüllte wie ein Stier. Nachdem mein Vater wieder zu sich gekommen war, verließen wir den Keller durch den Notausgang in Richtung Paradeplatz. Dort konnten wir endlich wieder aufatmen.

Später liefen wir zu Fuß nach Mittelbuchen. Dort hatte mein Vater schon eine Wohnung mitsamt einigen Möbeln vorbereitet.

Allerdings hatten meine Eltern ein zweites Paar Schuhe für mich vergessen. Die Schuhe, die ich am 19. März anhatte, waren mir schon zu klein. Deshalb mussten sie vorne aufgeschnitten werden, dass ich nach Mittelbuchen laufen konnte. Ich habe die Schuhe heute noch.

MR: Es ließe sich noch viel mehr über die Erfahrungen unserer Gemeindemitglieder aus den folgenden Tagen, Wochen und Jahren erzählen. Dass es auf dem Bauernhof, zu dem Jünglings geflohen waren, zu wenig Essen gab und sie deshalb wieder nach Hanau gingen und in einem besetzten Haus mit kaputtem Dach leben mussten. Wie Oschwalds und Hardegens ihre Übergangswohnungen kurz- oder langfristig an die Amerikaner abtreten mussten. Welche Schwierigkeiten, aber auch glücklichen Fügungen und regelrechte Wunder auf dem Weg zur Normalität und zum Wiederaufbau Hanaus sie erlebt haben.

Als die wiederhergestellte Kirche Mariae Namen 1952 konsekriert wurde, hing das Holzkreuz – lange Zeit verborgen im Keller der Oschwalds – wieder in der Kirche, genau dort, wo es auch heute hängt. Seine im wahrsten Sinne des Wortes bewegte Geschichte, die ich nun kenne, wird mich in Zukunft noch einmal anders auf es blicken lassen, wenn ich in Mariae Namen bete, besonders am Karfreitag.