In der Gefängnisseelsorge werden wir mit einer Vielzahl menschlicher Erfahrungen des Leids bzw. ‚des Kreuzes‘ konfrontiert. Als Gefängnisseelsorger habe ich über die Jahre in den Justizvollzugsanstalten in Hünfeld und Fulda Momente und Phasen beobachtet, die ein inhaftierter Mensch durchläuft, wenn er im Gefängnis leidet oder trauert: Schock, Verleugnung, Wut, Traurigkeit, Bedeutungslosigkeit, Reorganisation und Anpassung.
„Denn wenn etwas uns fortgenommen wird, womit wir tief und wunderbar
zusammenhängen, so ist viel von uns selber mit
fortgenommen.
Gott aber will, daß wir uns wiederfinden, reicher um alles Verlorene und vermehrt um jeden unendlichen Schmerz.“
Rainer Maria Rilke, Briefe aus den Jahren 1907 bis 1914, Leipzig: Insel-Verlag 1933, S. 33.
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„Der du von dem Himmel bist, Alles Leid [Freud] und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist, Doppelt mit Erquickung füllest,
Ach, ich bin des Treibens müde! Was soll all der Schmerz [ die Qual] und Lust?
Süßer Friede, Komm, ach komm in meine Brust!“
„Wandrers Nachtlied“ in: Goethes Werke (Hamburger Ausgabe) Band 1, 16. 1996, S. 554
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„Es ist das Befreiende von Karfreitag und Ostern, daß die Gedanken weit über das persönliche Geschick hinaus gerissen werden zum letzten Sinn alles Lebens, Leidens und Geschehens überhaupt und daß man eine große Hoffnung faßt.“
Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, S. 49.
Schock
Menschen, die im Gefängnis trauern und mit dem Kreuz des eigenen Lebens – mit Tod und Leid – zu tun haben, können durch die Haft einen neuen Schock erfahren. Dies führt zu Verwirrung, Unklarheit und Erstarrung. Ein einsetzendes Gefühl der Desorganisation, mit Gefühlen von Hilf- und Machtlosigkeit. Für die meisten ist die Gefängniserfahrung geprägt von vielen „Kreuzen.“ von einem überwältigenden Gefühl des Verlusts von Familie und Freunden, von Ehepartnern und/oder Kindern, von Arbeit und einem gelebten Leben, das jetzt abrupt endet.
Verleugnung und Wut
Auf den Schock des Leids und Kummers im Gefängnis, folgen manches Mal Verleugnung und Gefühle von Unglauben. Der Gefangene bemerkt eine starke Protestreaktion in sich. Er protestiert gegen die Ernüchterung und Verletzlichkeit, ein inhaftierter Mensch zu sein, auf so viele Arten eingeschränkt und ‚eingesperrt‘ zu sein. Die Erfahrungen dieser Verleugnung können Wut hervorrufen. Eine Wut, die oft mit Vorwürfen und Schuldgefühlen verbunden sind. Man zeigt mit dem Finger auf jemanden oder etwas, beispielweise das System, die Institution oder die Politik. Bin ich schuld, dass die Dinge so sind, wie sie sind? Nein, es muss jemand anderes verantwortlich sein. Schuld zu sein, für das Leid und die Trauer, die mir geschehen ist, ist nicht leicht auszuhalten.
Traurigkeit und Bedeutungslosigkeit
Wenn die Wut nach außen hin, den Mitmenschen oder sich selbst nachlässt und der Schuldsturm sich legt, fühlen sich Menschen hinter Gittern allein in ihrer Verzweiflung. Das Gefühl der Trauer tritt ein. Depressionen von innen können eine Folge sein. Ein sehr harter Moment in der Zelle. Die Bewältigung der Depression ist das Schwierigste in diesem Prozess. „Es ist doch eh alles so sinnlos.“ Die Bedeutungslosigkeit und Ungleichheit, die anhält, bis zu dem Punkt, an dem der Gefangene sich fragt, ob es sich überhaupt noch lohnt weiterzuleben.
Reorganisation und Anpassung
Kann ein Oster-Sinn für Realismus auftauchen? Kommt da noch etwas? Der Mensch hat trotz allem die Fähigkeit und die Ressourcen, sich selbst zu stärken und das Leben zu meistern. Wieder Hoffnung zu schöpfen hinter den Mauern. Mit den „Federn der Hoffnung“, um es poetisch zu sagen, kann der Mensch wieder ein Stück Versöhnung, Erlösung und Frieden mit seinem Leben suchen und finden. In der schrittweisen Auseinandersetzung mit den Umständen, mit der Umgebung und den Herausforderungen können sich Möglichkeiten entwickeln, Trauer und Leid auszudrücken und neue Pläne für die Zukunft zu entdecken.
Hintergrund
Die schweizerisch US-amerikanische Psychiaterin und Sterbeforscherin, Elisabeth Kübler-Ross, die später zur esoterischen Geistheilerin wurde, schuf ein weltweit beachtetes Fünf-Phasen-Modell, welches den Umgang sterbenskranker Menschen mit ihrer Situation beschreibt. Durch ihr Engagement erfuhren Sterbeforschung und Sterbebegleitung eine große Aufwertung. Die 5 Stufen der Trauer sind bei Kübler-Ross Verleugnung, Ärger, Feilschen, Depression und Annahme. Die Phasen beschreiben die geistige Verarbeitung des Abschieds bei Menschen, die gesundheitliche Verschlechterungen erleiden bzw. mit einer Diagnose und deren Prognose konfrontiert sind. Die Stufen folgen oft nicht nacheinander, sondern gehen ineinander über oder man steht wieder am Anfang. Kritiker erheben gegen Kübler-Ross Plagiatsvorwürfe und bezweifeln die wissenschaftliche Qualität ihrer Arbeiten.
Diakon Dr. mult. Meins G.S. Coetsier | JVA Hünfeld + Fulda